Neue Heimat im Ortsteil Flög
Im Ortsteil Flög standen zu dieser Zeit nur vier Häuser beziehungsweise Gebäude entlang einem Waldstreifen, den man als südlichen Ausläufer des Aachener Waldes bezeichnen kann. Die Häuserreihe liegt etwa 200 m von dem nördlich gelegenen Naturdenkmal Landgraben entfernt, der uralten Grenze zwischen dem Herzogtum Limburg und dem Aachener Reich. Der Landgraben war 2011 wohl 400 Jahre alt. Der Weg, ebenfalls Flög genannt, führte von Süden kommend direkt auf diese Häuserreihe zu. In deren Zentrum stand und steht auch heute noch das Anwesen des Karl Lux, wo die Familie Grassmann-Lux wohnte, heute ihre Nachfahren. Der Weg teilte sich nach links und rechts. Nach links stand da zunächst der Bauernhof des Leonard Bauens, bestehend aus Wohnhaus und Kuhstall. Leonard hielt hier mit seiner Frau Lisa im Erdgeschoss die Wohnung mit Milchküche und einen Stall mit sechs Kühen. Auf der ersten Etage bezog meine Familie eine 6-Zimmer-Wohnung. Auch die Bauens‘ wohnten wie wir dort zur Miete, sie hatten die Wiesen gepachtet. Das Anwesen mit Wohnhaus, Stall und Wiesen gehörte damals Martin Falkenstein und nach dessen Tod seinem Sohn Richard Falkenstein. Die Falkensteins betrieben in Herbesthal am Bahnhof ein Hotel, dort, wo seit dem frühen 20. Jahrhundert einmal ein Casino gewesen war. Herbesthal war bekanntlich bis zum ersten Weltkrieg Grenzbahnhof der Zugverbindung des Deutschen Reiches nach Belgien, das Bahnhofsgebäude selbst stammte aus wilhelminischer Zeit.
Später habe ich bei meinen Recherchen zur Hauseter Chronik erfahren, dass die Familie Falkenstein sich vor mehr als hundert Jahren in der Flög niederließ und drei der vier Häuser bewohnte. In einer weiteren Doppelhaushälfte aus Sandstein wohnte nämlich Johann Falkenstein mit seiner Frau Helene. Er war einer der Nachfahren dieser Sippe. Die zweite Gebäudehälfte bewohnte die Familie Pohlen, der Vater stammte auch aus Hauset. Hinter dem Gebäude Flög 125/127 des Johann Falkenstein endete der Weg in einer Zufahrt zur Sandgrube, die in kleinem Maßstab bereits vor dem Zweiten Weltkrieg ausgebeutet wurde. Zurück zur Straßenecke, dem Anwesen Lux mit der Jahreszahl 1861, stand gegenüber ein kleines Häuschen. Dieses Haus gehörte ebenfalls Richard Falkenstein, dem Sohn von Martin Falkenstein. Auch hier hatte seit Beginn des 20. Jahrhunderts und bis nach dem Zweiten Weltkrieg ein weiterer Zweig der Familie Falkenstein gewohnt. Gegen Ende der 50er Jahre zog dort eine französischsprachige Familie aus Verviers ein, der Zollbeamte Rahier und seine Frau.
Von der Kreuzung Lux nach rechts führte der Weg Flög entlang dem Bingeberg auf etwa einem Kilometer an vier weiteren Häuschen am Waldesrand vorbei zum Grenzübergang Köpfchen.
Im ersten Häuschen wohnte die Familie Peter Falkenstein, im zweiten die Familie De Rop, später die Witwe Elisabeth Kistemann, im dritten die Familie Josef Blomen mit seiner Frau Thea und Tochter Karola. Sie betrieben dort ein Kolonialwarengeschäft. Während der Weg in etwa parallel zur 200m nördlich gelegenen Landesgrenze verlief, stieß er an dem vierten und letzten Haus wieder auf die Staatsgrenze selbst. In diesem Haus wohnten die Familien Scheiff und Niessen-Kleebank. Dieses Haus ist jenes, bei welchem man einen Hauseingang über belgisches Gebiet erreicht, eben vom Weg Flög aus, und von der anderen Seite über deutsches Gebiet. Der Weg Flög war 1953 auch noch nicht als Straße ausgebaut, er wurde erst zwei Jahre später mit Randsteinen versehen und geteert.
Am Ende des Weges Flög mündet dieser in eine schmale Gasse, die vom letzten Haus bis zur Hauptstraße Aachen-Eupen führt. Die Gasse heißt im Volksmund Kaiserallee und bildet die Grenze zwischen Belgien und Deutschland. Eine in etwa glaubwürdige Erklärung für diesen Namen ist vielleicht die Sage, dass der damalige Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen, als Friedrich III später deutscher Kaiser, hier im Jahre 1885 auf einer Fahrt von Aachen nach Raeren von einer Delegation des Kreises Eupen willkommen geheißen wurde und für kurze Zeit dort flanierte. An der Einmündung der Kaiserallee auf die Landstraße liegt nach links oder Norden das deutsche Zollamt, auch Köpfchen genannt und nach rechts das belgische Zollamt. Noch vor dem Zollamt befand sich die Restauration Zimmermann, die schon in Hauseter Archiven vor mehr als 150 Jahren erwähnt wurde.
Von unserer Wohnung aus bis zum Dorfkern führte der Weg Flög, der im Jahre 1953 auch an dieser Stelle noch nicht ausgebaut war, sondern als steiniger, sandiger und provisorischer Fahrweg bestand, über eine Kurve an mehreren altehrwürdigen Bauernhöfen vorbei. Da war zunächst der Hof Hauseter Heide, der auch von einer Familie Bauens bewirtschaftet wurde. Peter Bauens und seine Frau hatten fünf Söhne. Weiter Richtung Dorfmitte lagen die beiden Höfe der Gebrüder Lorreng. Den ersten, Gut Weiern, bewirtschaftete Josef Lorreng mit seinem Sohn Franz. Der zweite, Gut Verkenskaul, wurde von Josef (Jüppchen) Lorreng und seiner Frau Tini bewirtschaftet.
In all diesen Häusern waren stets mehrere Kinder zu Hause, bei den Grassmanns zum Beispiel drei oder bei Pohlen zwei, bei Falkenstein Peter und Gretchen fanden wir Tochter Helga, bei Kistemann waren es deren drei, bei Scheiff sogar fünf, bei Blomen eines. Die Kinder waren entweder im Alter meiner Geschwister oder etwas älter, nur wenige waren in meinem Alter. Schnell hatte ich hier zwei Freunde gefunden, Bernd Grassmann und Freddy Pohlen, die beiden Nachbarn. Ähnlich ging es meinen Geschwistern. Die Familien fanden recht gut zueinander, wobei im Laufe der vielen Jahre dann doch immer wieder der eine oder andere Krach entstand, im Großen und Ganzen verlief das Zusammenleben aber harmonisch und menschlich.
Bei den Grassmanns zum Beispiel entstand ein Gartenlokal mit Schänke, genannt „Waldfrieden“, welches über Jahre Wanderer und Besucher vornehmlich aus Aachen anzog, die hier vor allem am Wochenende bei Kaffee und Kuchen den neuen Wohlstand zu genießen suchten. Die Restauration mit Terrasse wurde etwa 1954 eröffnet. Mathias und Else Grassmann-Lux waren Wirt und Wirtin. Ihre Tochter Käthe war etwas älter als meine Schwester, Sohn Dieter ein Jahr jünger als mein Bruder, Sohn Bernd zwei Jahre jünger als ich selbst. Im Haus war auch eine Schlosser-Werkstatt, die der damals schon fast 80-jährige Karl Lux mit seinem jüngeren Sohn Josef Lux betrieb. Die Waldschänke sollte einige Jahre auch mein Leben und das Leben meiner Eltern irgendwie mit einbeziehen.
Die Familie Pohlen kam wie wir aus eher bescheidenen Verhältnissen, Tochter Gisela war im Alter meiner Geschwister, Sohn Freddy in meinem Alter. Wir wurden für mehrere Jahre Schul- und Spielgefährten. Deren Nachbarn, Johann Falkenstein und seine Frau, die „dicke Helene“, lebten ebenso bescheiden, er als Imker und Gärtner, sie als Stöpferin und Näherin.
Der Weg zum Zollamt und zur Schule
In der Nähe hatten wir noch Kontakt, bedingt durch den gemeinsamen Schulweg, zu den Gebrüdern Bauens. Die drei ältesten Geschwister waren älter als meine Geschwister, die beiden jüngeren, die Zwillinge Albert und Leopold, etwas älter als ich. Der Schulweg wurde zu Fuß oder für die besser Ausgestatteten per Fahrrad verrichtet. Dabei kamen wir an dem Bauernhof Gut Weiern vorbei, wo Josef Lorreng mit seinem Sohn Franz wohnte. Josef Lorreng war Bürgermeister von Hauset. Die Kinder mussten ihn mit Handschlag begrüßen, wenn man ihm auf der Straße begegnete.
Dann ging es links ab, bergauf über Getenberg vorbei an dem Bauernhof der Familie Fritz Kockartz bis hin zur ersten Kreuzung im Ort, wo sich auch eine erste Bäckerei mit Saalbetrieb befand, die von Heinrich Kockartz und seinem Sohn Heinz betrieben wurde. Noch etwas weiter Richtung Kirche finden wir noch heute die zweite Bäckerei des Peter Kockartz. Neben der Schule befand sich das Gemeindehaus gegenüber das Kolonialwarengeschäft Hoven.
Der Weg von bei uns zu Hause Richtung deutsche Grenze Köpfchen wurde auch zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt. Im ersten Haus wohnten, wie gesagt, Peter und Gretchen Falkenstein mit Tochter Helga, etwas weiter zunächst die Familie De Rop, dann die Witwe Kistemann, von deren Kindern Sohn Edo so alt war wie meine Schwester und Tochter Helene so alt wie mein Freund Bernd.
Bei Blomen, die mit dem Kolonialwarengeschäft, bediente Thea Blomen. Die Tochter Karola war so alt oder etwas älter als meine Schwester. Das Geschäft war bekannt und bequem, zugleich, weil es nicht nur für uns eine Versorgungsstelle war, sondern auch für den gesamten Zollbetrieb, denn insbesondere die deutschen Zoll- und Grenzschutzbeamten versorgten sich hier mit Zigaretten und Kaffee als wohl damals wichtigste Versorgungsmittel.
Im Eckhaus direkt an der Grenze wohnte die Familie Kleebank, von Beruf war er Schreiner und Hobby-Jäger. Daneben lebte die Witwe Scheiff mit ihren fünf Söhnen. Sohn Josef heiratete nach Kelmis, er war zunächst Zeitsoldat, danach betrieb er in Hergenrath eine Schlosserei. Heute bewohnt er mit seiner Frau das Haus Kleebank. Sohn Willy war schon etwas älter, er blieb in seinem Elternhaus zeitlebens wohnen. Willy war von Beruf Schreiner und konnte deshalb kleinere Arbeiten verrichten, wofür auch meine Familie ihn hin und wieder beanspruchte. Willy stand unserer Familie und auch mir selbst viele Jahre später immer zur Seite. Bruder Edmund war so alt wie meine Schwester, wie sie arbeitete er als Zolldeklarant am belgischen Zollamt. Er verstarb allerdings recht jung in den sechziger Jahren. Sohn Aloys heiratete die Tochter Grassmann, nämlich Käthe. Die beiden bauten Jahre später ein Häuschen in der Flög, auf einem Baugrundstück, das zur Wiese von Haus Lux gehörte. Der jüngste Sohn Hermann schließlich war im Alter meines Bruders, sie gingen gemeinsam mit Dieter Grassmann in die Dorfschule. Er wurde später Lehrer und war auch künstlerisch sehr begabt. Zahlreiche Gemälde und Holzschnitzereien (Intarsien) zählen zu seinen viel beachteten Kunstwerken. Er lebte mit seiner Frau Elisabeth in Hergenrath und er verstarb dort selbst im eher jungen Alter in Folge eines Treppensturz‘.
Auf dem Schulweg begleiteten uns auch manchmal Kinder, die an der Hauptstraße Aachen-Eupen wohnten. Dies war vor allen Dingen die Familie Schauff mit sechs Kindern. Sohn Hans hatte mein Alter und er teilte als Schul- und Spielgefährte einige Jahre mit uns Kindern aus der Flög manche gemeinsamen Erlebnisse des Kindesalters.
An diesen Nachbarschaftsverhältnissen änderte sich einige Jahre nichts. Es kam mir vor wie eine sehr lange Zeit. In den sechziger Jahren verstarben als erste Johann Falkenstein und seine Frau Helene, etwas später auch „Opa“ Karl Lux oder oben im Hause Kleebank auf der Grenze auch Bäbi Nießen sowie Johann Kleebank. Zur Familie Kleebank gehörte auch Käthe Niessen, die mit ihrer Tochter Maryanne nach dessen Tod in das Haus des Peter Falkenstein gezogen war. Die Witwe Falkenstein bezog daraufhin eine Wohnung gegenüber der Schule. Tochter Helga hatte recht jung den Zollbeamten Michel Parent geheiratet. Zuletzt waren es dann die Eltern des Bauernhofes Peter Bauens, deren Leben erlosch, was zur Folge hatte, dass der Hof von einer Familie Cormann aus der Stöck in Hauset gepachtet wurde. Als unser Hausgenosse Leonard Bauens verstarb, hatte dies zur Folge, dass die Landwirtschaft hier endete. Seine Witwe Lisa zog zu ihrer Tochter Hanny in die Dorfmitte. Hanny hatte Josef Charlier geheiratet, den Spross einer alteingesessenen Hauseter Familie. Bei Familie Pohlen im Nachbarhaus entstand, für uns als Kinder unschwer zu erkennen, eine Ehekrise, welche viel Energie bei den Betroffenen und den Nachbarn freisetzte. Dies führte irgendwann, ich glaube Mitte der sechziger Jahre, zur Trennung der Familie. Tochter Gisela und ihre Mutter zog es nach Aachen, Sohn Freddy heiratete in den frühen siebziger Jahren und wohnte dann in Eupen. Vater Heinrich zog zu seiner Freundin nach Schmithof.
Die Dorfschule zu Hauset
Von meinem Besuch der Volksschule in Hauset habe ich den Einschulungstag selbst nicht mehr in Erinnerung. In der Gemeindeschule hatte jeder Lehrer oder Lehrerin zwei Klassen. Die Lehrerin für das erste und zweite Schuljahr war Frl. Winners. Sie wurde, obschon inzwischen verheiratete Albinvanus, immer Frl. Winners genannt. Die Kameraden und Kameradinnen des ersten Schuljahres blieben viele Jahre einander verbunden: Es waren dies Karl-Heinz Hoven vom Kolonialwarengeschäft Hoven, Bernd Kockartz von der Bäckerei Peter Kockartz, Edgar Janssen, Sohn des Kohlen- und Kartoffelhändlers Mathias Janssen an der Hergenrather Straße, Helga Lennertz, die ehemalige Nachbarin auf Frepert in Hauset, Engelbert Güsting von der Bauerei Güsting an der Göhl (dem Bach, der in Lichtenbusch entsteht und in Meerssen (Südlimburg) in die Maas fließt), sowie Marlene Emonts, die jenseits dieses Baches wohnte. Hinzu gehörten auch noch Simone Decheneux, des Försters Töchterchen, und Francis Didden, ein Landwirtssohn vom Bonneberg. Von jedem dieser Schulkameradinnen und Kameraden blieben viele, meist angenehme Erinnerungen sowie viele Anekdoten zurück, die wir gemeinsam erlebten.
Die Erinnerungen an die beiden ersten Schuljahre sind eher dürftig. Unsere Lehrerin Frl. Winners verließ die Schule kurze Zeit später und kehrte nach Eupen zurück, wo sie auch wohnte. Aus ihrer Zeit in der Schule habe ich noch eine Erinnerung an den Feldhüter der Gemeinde, „Champette“ Lenz, der auf Frepert unser Nachbar gewesen war. Er verfolgte in den frühen fünfziger Jahren die Gesetzesbrecher, meist Schmuggler oder Diebe, und dies mit dem Fahrrad. Von dem Klassenzimmer der Schule aus konnten wir Schüler sehen, wie einmal ein zum Verhör herangebrachter Schmuggler aus dem Fenster des ersten Stocks des Gemeindehauses sprang, das sich direkt neben der Schule befand, und sich von dort quer durch die Wiesen aus dem Staub zu machen versuchte. Der Feldhüter fing ihn aber ein und brachte ihn zurück zum Verhör.
Zu meinen Pflichten bei Frl. Winners zählte im Frühsommer das Sammeln von Blaubeeren; sie gab mir fünf Franken für einen kleinen Eimer. Auf dem Bingeberg in der Flög wuchsen im Kiefernwald genügend davon. Auch das Sammeln von Blumen für die Fronleichnamsprozession und die Teilnahme an der Prozession selbst waren Pflicht. Die meisten Jungen in der Klasse wurden Messdiener und mussten in wechselnden Zweiergruppen im Turnus eine Woche Dienst am Herrn tun. Für mich war das natürlich schwieriger als für meine Schulkameraden, die gleich neben der Kirche wohnten oder zumindest in Sichtweite derselben. Es hieß zumindest sehr früh aufstehen, die Messe begann um acht Uhr. Schwach erinnere ich mich auch noch zu dieser Zeit an einen Ausflug zu den „Cascade de Coo“, den Wasserfällen von Coo. Nach Frl. Winners hatte ich noch eine neue Lehrerin, Frl. Ney, bevor ich ins dritte Schuljahr kam. Während dieser Jahre kann ich mich noch an Begebenheiten erinnern, die den Alltag eigentlich wie ein Märchen erscheinen ließen. Lehrer Joseph Scheen hatten wir im dritten Schuljahr auch nur kurze Zeit, er hatte die Schule verlassen. Ersetzt wurde er durch einen Lehrer aus der Eifel, Lehrer Haag aus Büllingen. Er nahm seine beiden Klassen mit auf einen Schulausflug in seine Heimat in der Eifel, zur Besichtigung der Stauseen von Robertville und Bütgenbach, sowie zur Burgruine in Burg Reuland (heute schreibt man fälschlicherweise Burg Reuland allerorts mit Bindestrich). Es war eine schöne Erinnerung, die auch im Foto festgehalten wurde. Ebenso wurde unser Besuch bei Sankt Nikolaus (Saint Nicolas) im Kaufhaus Grand Bazar in Verviers im Foto festgehalten. Es war dies ein weiterer Ausflug in der Vorweihnachtszeit.
Auch erinnere ich mich daran, wie ich mit Hans Schauff, er wohnte auf der Aachener Landstraße, meist nach der Schule zum Forellenfang in den Rotsiefbach stieg und deshalb die Mittagspause, zu der wir immer nach Hause marschierten, äußerst kurz blieb. Wir hatten anderthalb Stunden Pause, aber ein Schulweg hin war anderthalb Kilometer. Auch hatte ich einmal mit Hans bei den Vogelfängern, die im Herbst die Wiesen bevölkerten, die Käfige der Lockvögel geöffnet und den Vögeln ihre Freiheit zurückgegeben. Dies geschah nicht ohne Strafe in der Schule (Nachsitzen), wir waren wohl schon etwas älter.
Das Leben in der Familie und in der Freizeit
Privat im elterlichen Haus waren es glückliche und zufriedene Zeiten, auch wenn es meinen Eltern offensichtlich stets an Geld mangelte. Von meinem Vater hatte ich in Erinnerung, dass er im Busunternehmen SADAR in Neu-Moresnet tätig war. Meine Mutter arbeitete gelegentlich als Haushaltshilfe, in dieser Zeit in Aachen bei einem Neurologen, der in der Malmedyer Straße wohnte und seine Praxis in der Wilhelmstraße hatte. Ich selbst mähte auf dessen kleinem Grundstück manchmal den Rasen, um mir einige Mark dazu zu verdienen. Später arbeitete Mama als Haushaltshilfe beim Zollvorsteher des belgischen Zollamts Köpfchen, der Familie Schinckus. Mit ihnen blieb sie lange Jahre verbunden, genauso wie vorher mit dem Doktor in Aachen. Viele Waren des täglichen Bedarfs wurden ans Haus geliefert, Getränke von Josef aus Teuven oder Fleischnahrungsmittel aus der Metzgerei van Houten in Hergenrath. Ich erwähnte bereits die Hauslieferungen aus dem Ort, die der Bäckereien Kockartz und Gatz, später auch die Lebensmittel, die Ferdinand Gatz ans Haus brachte. Zum Einkauf ging aber meine Mutter auch in die Geschäfte, in unserem Fall viel zu Blomen in der Flög oder nach Aachen. Ich erinnere mich an die zahlreichen Fahrten dorthin, auch und insbesondere an die Besuche bei Zahnarzt Bredohl, wobei ich nicht weiß wieso meine Eltern mit mir dorthin gingen, wo doch mein Vater in Belgien beschäftigt war. Nach meinen Operationen im Vorschulalter habe ich danach eigentlich keinen belgischen Arzt mehr konsultiert, außer Dr. Köttgen aus Hergenrath. Er war der nämlich Schularzt. In Aachen besuchte ich einige Male auch Dr. Grupe aus Hergenrath, er selbst weilte sehr oft als Gast in der Schänke „Waldfrieden“ bei Grassmann nebenan.
Diese Schänke brachte uns auch viele Erlebnisse. Wir als Kinder in der Flög und ich als Nachbar hatte das Vergnügen, dass wir beim Bedienen an den sonnigen Wochenenden im Gartenlokal Waldfrieden von Grassmann-Lux mithelfen durften und etwas Taschengeld verdienten. Meine Eltern waren auch häufiger dort, weil es ein Ort für gelegentliche Treffen war, sei es zu einem Skatturnier oder einfach zum Verweilen. Aber auch ansonsten war ich viel bei Bernd Grassmann nebenan, entweder im Wohnhaus oder in der Werkstatt bei Opa Lux.
Dessen Sohn Josef, der auch dort arbeitete, ließ Bernd und mich einmal an seiner Bierflasche („Jupiler“) trinken, und weil uns das so gut schmeckte, bestellte er auch gleich nach. Das Ergebnis war, das wir beide zu mir nach Hause schlichen, uns auf die Couch legten, die in unserer Küche stand, und Bernd mir eröffnete, ich solle doch nach Hause gehen, ich mache ihn so nervös.
Zu den weiteren Treffpunkten meiner Eltern gehörten die Kneipen an der Aachener Landstraße, zum Beispiel das Restaurant Köpfchen auf deutscher Seite, wo Frau Panthel die Wirtin war. An dem Grenzübergang in Belgien gab es aber noch andere gastronomische Betriebe und Fernfahrerunterkünfte, das Café Schmetz, der Saal Laschet, das Café Homburg und auch die Tankstation Peterges, ein Stück weiter in Richtung Hauseter Weg. Das Café Homburg wurde von der wallonischen Familie Lejeune bewirtschaftet, meine Mutter arbeitete dort gelegentlich.
Meine Schwester hatte es zur Zolldeklarantin gebracht, nachdem sie in Kelmis die Mittelschule absolviert hatte. Dies brachte ihr verschiedene Vorteile, gab es doch dank ihrer Kontakte gelegentlich Bier (Thier Bräu und Dortmunder Union) neben so exotische Dinge wie zum Beispiel Kakteen. Ich meine Sie hat einiges davon zu Geld gemacht.
Bruder Siegfried fuhr vor seinem Schulabschluss mit dem Zug zur Schule Don Bosco nach Welkenraedt, verbrachte dort einige Monate um kurz nach Hauset zurück zu kommen. Danach arbeitete er für viele Jahre im Kabelwerk Eupen, es waren wohl nahezu 18 Jahre. Nach ihm konnten die Nachbarn, wenn er morgens zum Bus ging oder abends zurückkam, „die Uhr stellen“. Er verließ das Haus um sechs Uhr morgens und kam abends um sechs Uhr zurück, Sommer wie Winter. Den Bus nahm er an Köpfchen, der Zollstation an der deutsch-belgischen Grenze von Aachen und Hauset.
Mit acht Jahren ging unser Jahrgang zur ersten Heiligen Kommunion, es war der 19. Mai 1955. Auch in Hauset war dieser Anlass jedes Jahr so etwas wie ein Dorffest mit einer Prozession, die vom Vestert bis zur Kirche ging. Im Jahr zuvor, 1954, war Pfarrer Duschak verstorben, so dass wir unsere Kommunion mit dem neuen Pfarrer Robert Pankert erlebten. Zu Hause gab es für damalige Verhältnisse ein Festessen, wobei Josepha Hansen meiner Mama half. Viele schöne Erinnerungen habe ich, auch weil viele Fotos gemacht wurden, an das Fest aus Anlass meiner feierlichen Heiligen Kommunion, im Jahr 1957. Robert Pankert war nach wie vor Pfarrer in Hauset und die Schüler meines Jahrgangs besuchten fast alle noch die Hauseter Dorfschule. Zur feierlichen Kommunion war ich zehn Jahre alt. Bei mir zu Hause war nun doch schon etwas mehr Wohlstand ausgebrochen, es ging den Menschen wieder besser. Deshalb hatten meine Eltern zur Feier meine Patentante, meinen Patenonkel und ich natürlich auch einige Freunde, Bernd Grassmann und Edgar Janssen eingeladen. Bei einem Spaziergang entlang der Grenze im Wald wurden die Festgäste von einer deutschen Zöllnergruppe wegen unerlaubtem Grenzübertritt „verhaftet“ und zum Grenzübergang Köpfchen abgeführt. Es war wohl eine Posse, es regte aber meinen Vater doch sehr auf. Am Zollamt erkannte man ihn natürlich und alle konnten wieder nach Hause gehen. Auf dem Fest war damit für Gesprächsstoff gesorgt.
Jedenfalls waren die größten Feste immer die Kommunionsfeier (die erste und die so genannte feierliche mit der Erneuerung der Taufgelübde) und die Firmung, die in unserem Fall von Bischof Kerkhoffs aus Lüttich vorgenommen wurde.
Der dritte Lehrer unseres Jahrgangs war Hauptlehrer Jules Cravatte, der schon zur Zeit meiner Schwester und meines Bruders der berüchtigte Schulleiter gewesen war. Mein Bruder ging noch eine kurze Zeit in die Gemeindeschule, dann allerdings zur Don Bosco-Schule nach Welkenraedt, meine Schwester hatte bereits die Dorfschule verlassen und besuchte die Mittelschule in Kelmis. Hierhin verschlug es einige Schülerinnen und Schüler aus Hauset, andere hingegen gingen eher nach Eupen oder wieder andere in ein Internat der Gegend, die meist von Geistlichen geleitet wurden.
Die frischesten Erinnerungen blieben natürlich die vom Schulunterricht mit Hauptlehrer Cravatte. Er war eine Institution, schon seit 1920 als Lehrer in Hauset tätig. Seine Lehrtätigkeit wurde nur durch eine längere Krankheit in den 20ger Jahren und durch die Kriegsjahre 1940-1945 unterbrochen. Die Bibel bekamen wir Schüler förmlich eingebläut. Auch war die Heilige Kommunion eigentlich Pflicht und obschon wir Schüler es immer wieder aufs Neue versuchten, konnten wir den Ablass von neun Kommunionen am 1. Freitag eines jeden Monats nie ganz erfüllen, immer kam etwas dazwischen.
Für uns Schüler war es jedoch ein Anlass, wegen der Pflicht zur Nüchternheit vor der Messe, anschließend in der Schule zu frühstücken, was auch erlaubt und gefördert wurde. Im Klassenzimmer konnten wir Schüler vor der ersten Pause unsere Frühstücksbrote zu uns nehmen, was auch Hauptlehrer Cravatte machte, indem er, so meine Erinnerung, seinen Kaffee mit Brot vor sich hin schlürfte.
Das ganze Schulwesen war durchsetzt von Aktivitäten, die größtenteils durch die Religion bestimmt waren, und eine gewisse Strenge und Disziplin offen legten, ohne dass wir dies als übermäßige Belastung angesehen hätten. Nach dem Tode von Pastor Duschak, den die ganze Pfarrgemeinde in einer großen Beisetzung zu Grabe trug, war das weitere Schulleben bestimmt von Pastor Pankert, der auch die Kommunion mit uns feierte. Der Pfarrer gab zweimal in der Woche Religionsunterricht, den Rest erledigte Hauptlehrer Cravatte selbst.
In diese Zeit fiel auch die Gründung des Schützenvereins Sankt Hubertus, bei der auch meine Hebamme, Seefchen Hansen mitwirkte. Wir schreiben das Jahr 1956. Mit Bernd Kockartz und Karl-Heinz Hoven führte ich den Zug mit einem geschmückten Fahrrad an. Zwei Jahre später, 1960 zur Hundertjahrfeier der Pfarre Hauset, wurde auch der neue Kirchturm der Pfarrkirche Sankt Rochus eingeweiht. Auch erinnere ich mich noch an Exerzitien, die, von der Pfarre organisiert, das „Maschinengewehr“ Gottes, Pater Leppich als Prediger nach Hauset führten. Die Dorfkirmes in Hauset fand im Sommer statt, während der Schulferien. Meist waren 2 - 3 Karussells auf dem Vestert, dem Platz vor der Restauration Kockartz oder bei Gatz an der Göhl aufgebaut. Ich selbst hatte nicht sehr viel Taschengeld zur Verfügung und habe deshalb auch recht wenig ausgegeben. Manchmal kam Onkel Klaus zu Besuch, der steckte mir gelegentlich einen 50- oder 100-Franken-Schein zu. Die Jungen, mehr als die Mädchen, organisierten sich bald in der katholischen Landjugend (KLJ), was neben religiösen Veranstaltungen auch Einsätze in der Eifel oder in Eupen mit sich brachte. Der Beginn lag allerdings in der Hauseter Dorfschule und die KLJ Gruppe leitete Pfarrer Pankert.
Die einzelnen Schüler wurden von Hauptlehrer Cravatte gründlich auf die spätere Mittelschule vorbereitet, wenn sie dann die Mittelschule besuchen wollten. Als Vorbild nannte er Günter Pelzer, der in Lüttich studierte. Er war zu dieser Zeit der einzige Hauseter der ein Studium absolvierte. Unsere weitere Schulausbildung sollte auf jeden Fall in einer katholischen Einrichtung fortgesetzt werden, so verschlug es dann bald einige zum Collège Patronné nach Eupen, die Bischöfliche Schule. Die Mädels besuchten meist, wenn überhaupt, das Heidberg Institut, ebenfalls in Eupen. Andere wechselten ins Internat nach Herve oder in die Mittelschule nach Kelmis. Wieder andere arbeiteten gleich zu Hause oder es zog sie in die Lehre nach Aachen.
In der Flög selbst vergingen die Jahre wie im Flug und so vergingen auch die Erinnerungen. Die älteren Geschwister meiner Freunde waren bald in alle Ecken verstreut und heirateten, ähnlich wie meine eigenen Geschwister. Die Flög entvölkerte sich. Zurück blieben am Ende nur noch Bernd Grassmann und ich. Aber so schnell ging dies noch nicht, denn wir versuchten uns, so gut es ging, die Zeit zu vertreiben. Dabei spielten wir in der Sandgrube, die zu dieser Zeit noch per Hand mit einem kleinen Schienennetz und Kipploren von Gemeindearbeitern ausgebeutet wurde. Ich erinnere mich, dass ich einmal mit Freddy Pohlen und Bernd für die Kipplaster, die dort Sand abholten, eine Fallgrube gebaut hatte, die wir mit Farn und mit Sand bedeckten. Es fiel zwar kein LKW in dieses tückische Loch, wohl aber unser Nachbar Johann Falkenstein, der natürlich gleich ahnte, woher der Wind wehte.
Ein Jahr zuvor, vielleicht war es auch 1955, war die Sandgrube sehr vergrößert worden, denn das belgische Militär aus Elsenborn holte während einiger Monate mit zahllosen Armeefahrzeugen Sand aus der Grube ab, der wohl für Betonpisten am Truppenübungsplatz Elsenborn verwendet wurde. Für uns Kinder war dies allerdings eine spannende Angelegenheit, sahen wir doch die Armee in ihrem Einsatz, Gott sei Dank einem friedlichen.
Auch spielten wir viel im Wald. In einem Jahr kam es zu einem größeren Waldbrand mit überschaubarem Schaden, der wohl überwiegend von den Zwillingen Bauens verursacht worden war. Nach dem Tode des Vaters verließ diese Familie allerdings den Hof, er wurde dann von der Familie Cormann bewirtschaftet. Auch sie hatte zwei Kinder, Maria und Josef, die mit uns zur Schule gingen. Beim Spielen in den Wäldern erinnere ich mich noch an die sogenannten Olympiaden, die wir auch unter Mitwirkung meiner Cousine Elfriede aus St. Tönis veranstalteten: Hochsprung, Weitsprung, Hürdenlauf, Sprint, Speerwerfen,… Elfriede besuchte uns ein oder zweimal während der Ferienzeit für einige Wochen.
Mit dem sechsten Schuljahr in Hauset endete auch der Aufenthalt an der Hauseter Dorfschule, ein neuer Lebensabschnitt stand an, der Besuch der Mittelschule in Eupen.
Schulische Leistungen
Die Zeugnisse in der Dorfschule (Gemeindeschule) waren zumindest in den ersten Jahren durchschnittlich. In Belgien rechnen sich ja die Noten in Prozent von Zehn (oder Hundert). Bei Frl. Winners (sie zeichnete Albinvanus) war die Note knapp unter sieben (7), bei Lehrer Haag in der Mittelklasse (4. Schuljahr) war es dann immerhin schon 7,9/10 und bei Hauptlehrer Cravatte im 5. und 6. Schuljahr wurde es dann doch besser: die Note 9,5/10 war fast perfekt. Vielleicht hatte er auch etwas aufgerundet, da ich ja mit guten Noten nach Eupen gehen sollte.
Meine Schwester und mein Bruder waren ja acht, bzw. sechs Jahre älter als ich und hatten die Schule schon fast verlassen, als ich mit der Schule begann. Auch kann ich mich erinnern, dass einige Hauseter Kinder in diesen Jahren sehr oft mit der Straßenbahn nach Aachen fuhren über Alt-Linzenshäuschen und Neu-Lizenshäuschen. Dort war noch lange Jahre ein Tanzlokal, das vor allen Dingen Monique besuchte. Es bestand bis in die siebziger Jahre fort. Aber auch in Aachen war mir das Café Vaterland geläufig, an der Ecke zum Dahmengraben gelegen. Ich selbst war natürlich nie dort.
Unten ist noch die Menükarte meiner Kinderkommunion abgebildet. Das Essen hatten meine Mama und Seefchen Hansen gekocht. Die Menükarte war immer auf Französisch, weil Martha dies wohl so bei Knauff gelernt hatte und sich das wohl auch besser anhörte.
Welchen Einfluss hatte die Schule für meine Identität und Gesinnung
In der Dorfschule von Hauset war, ich schilderte es bereits, seit den frühen 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein Erzieher tätig, der über 30 Jahre die Geschicke der Schule leitete. Es war Jules Cravatte, der aus einer Lehrerfamilie in Remersdael stammte. Von insgesamt sieben Geschwistern waren sechs Erzieher geworden. Remersdael gehört zu Altbelgien, also jenem Gebiet in dem auch vor 1920, dem Jahr des Versailler Vertrags, Deutsch gesprochen wurde. Wenige Jahre später kam Jules Cravatte als Erzieher nach Hauset, von der belgischen Verwaltung in die „wiedergewonnenen“ Kantone entsandt. Er fehlte in den ersten Jahren häufiger wegen Krankheit, leistete aber seinen Dienst bis zum Ausbruch des Krieges im Mai 1940. Rechtzeitig hatte er sich nach Innerbelgien in Sicherheit gebracht. Bereits Ende 1944 kehrte er nach Hauset zurück und wurde Hauptlehrer der Dorfschule.
Ohne Zweifel war Jules Cravatte ein außergewöhnlicher Erzieher. Die Schüler*innen, die seine Klasse besuchten, schwärmen noch heute von ihm, obschon er äußerst streng war. Sein Hauptverdienst war es wohl, dass er alle Schüler zu guten Christen und zu guten Belgiern zu erziehen wusste. Insofern war auch sein Einfluss auf meine Kindheit durchaus nachhaltig. Die Geschichte Belgiens begann er bereits bei den keltischen Stämmen. Das waren die Menapier und Eburonen ebenso wie die Aduatiker und die Trevierer. Er sparte weder die Kriegsjahre noch die Zeit des Nationalsozialismus aus. Fortdauernd wetterte er gegen Hitler und seine Schergen, und es war für uns Kinder so, dass wir dies alles verinnerlichten, egal welche Einstellung die Eltern zu Hause vielleicht hatten.
Bei mir zu Hause wurden der Krieg oder die „Säuberung“ danach nicht thematisiert, man widersprach aber auch nicht dem Hauptlehrer. Auch die Bibel mussten wir in ihrer ganzen Geschichte verinnerlichen, Bilder und Karten zeichnen. In Bibelkunde konnte man uns Kindern nichts vormachen. Vieles ist bei den SchülerInnen haften geblieben und noch heute können die früheren Schüler manche Bibelstelle, Inhalte des Katechismus oder auch manche Erziehungsempfehlung auswendig rezitieren. Die Erziehung kann man als durchaus religiös bezeichnen. Es bleibt also das Fazit, dass Hauptlehrer Cravatte uns Schüler zu guten Belgiern und zu guten Katholiken erzogen hat.
Für meine Familie kann ich sagen, dass wir uns im täglichen Leben mehr Aachen hingezogen fühlten. Dies war aber keineswegs einer Abneigung gegenüber Belgien geschuldet, denn meine Mutter hatte ja viele Bekannte im französischsprachigen Belgien und, da mein Vater aus Eupen stammte, hatten wir auch viele Verwandte in Eupen. Dieser Freundeskreis war seinerseits auch nicht besonders auf Belgien fixiert; wie mein Vater hatten aber wohl alle ihren beruflichen Lebensmittelpunkt im Königreich. Vielleicht ist es deshalb so, dass ich mich für dieses Königreich sehr interessierte. Als Schüler kannte ich schon die ganze belgische Königsfamilie. Die Bilder der Könige, die ja zuhauf im Grenz-Echo erschienen, klebte ich in einem Heft ein. Der junge König Baudouin besuchte 1956 die Ostkantone und auch Eupen, er wurde begeistert begrüßt. Genau in diesem Jahr erinnere ich mich auch an den Aufstand in Ungarn, und wieder klebte ich die Zeitungsauschnitte in ein Heft. Sogar der Name Imre Nagy, der den Aufstand leitete, blieb in meinem Gedächtnis. Woher allerdings mein Eifer kam, weiß ich heute nicht mehr. Mein Vater zumindest war von diesen Ereignissen auch sehr betroffen, der Krieg war noch nicht sehr lange vorbei. Richard kannte allerdings nur die Politiker in Deutschland, allen voran Konrad Adenauer. Dieser hatte es ja geschafft, 1955 die vielleicht letzten Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion nach Hause zu holen. Das Radio war für uns die erste Informationsquelle und hier lief eigentlich jeden Tag im WDR die Sendung „Zwischen Rhein und Weser“ und Weihnachten vor allen Dingen die Grußsendung von und an die Seeleute auf hoher See. An den Korea Krieg kann ich mich nicht mehr erinnern, ebenso wenig daran, dass im gleichen Jahr 1953 Josef Stalin starb. Auch der Aufstand in Ostberlin (17. Juni) prägte sich noch nicht in mein Gedächtnis ein. Vielleicht war ich da ganz einfach noch zu jung. 1954 war die Erinnerung schon da, denn Deutschland wurde Fußball-Weltmeister und jeder der Zuschauer vor dem Fernseher im Saal Adamski in Hergenrath war stolz und begeistert. Adenauer war Bundeskanzler und Theodor Heuss Bundespräsident. Auch von ihm hörte man einiges im Radio.
Ich kann mich noch genau erinnern, dass es den „Russen“ 1957 gelang, den ersten Satelitten ins All zu schicken, Sputnik 1. Dies war schon ein Ereignis, das die Sowjetunion in ein anderes Licht rückte. Zumindest brauchten die USA Jahre, um diesen Vorsprung aufzuholen. Als 1958 eine weltweite Wirtschaftskrise einsetzte, hielt das Wirtschaftswunder in Deutschland an. In Brüssel fand die Weltausstellung statt und an den Besuch kann ich mich auch genau erinnern. Fast wäre ich während des Abschluss-Feuerwerks „verlorengegangen“, aber meine Mama fand mich dann doch wieder. Die Busfahrt nach Brüssel wurde von Eupen aus organisiert, als Chauffeur hatte mein Vater viele Fahrten durchgeführt. Erinnern kann ich mich auch daran, dass Elvis Presley in diesem Jahr als GI nach Deutschland kam. Wir Kinder fuhren oft nach Aachen zur Nuellens-Passage, wo in einem Kino die UfA Wochenschau (Fox‘ tönende Wochenschau) lief, und da war Elvis eben der Star. Aber auch ein trauriges Ereignis wurde dort bereits 1957 wiedergegeben: das Segelschulschiff Pamir sank in einem Hurrikan vor den Azoren und 80 junge Seeleute starben.
Hauptlehrer Cravatte hatte ich es zu verdanken, dass ich in Eupen die Mittelschule besuchen durfte. Er hatte meine Mutter wohl dazu überredet. Jules Cravatte ging kurze Zeit später in den Ruhestand und verließ dann auch Hauset.