Wandel und Veränderungen in achtzig Jahren
In diesem Jahr gedenken wir des Endes des Zweiten Weltkriegs zum 80sten Mal und in wenigen Monaten erinnern wir uns an den 50. Jahrestag der Gemeindefusionen, die die Verwaltung unserer Dörfer und Ortschaften neu ordnete. Im Januar 1977 wurde die Verschmelzung der Gemeinden Hauset und Eynatten mit der Gemeinde Raeren und allen Raerener Dörfern zur Großgemeinde Raeren vollzogen. Mit dieser Beitragsserie möchte ich schildern, wie ich die Entwicklung des öffentlichen gesellschaftlichen Lebens in der Dorfgemeinschaft Hauset in diesen 80 Jahren erlebt habe, vor allem wie ich diese Veränderungen in den fünf Jahrzehnten seit der Gemeindefusion wahrgenommen habe. Diese Schilderung ist keine Dorfchronik, sondern vielmehr ein Erlebnisbericht, in dem ich ausschließlich meine eigenen Eindrücke und Empfindungen zur dorfgeschichtlichen Entwicklung wiedergebe. Seit meiner Geburt im Jahr 1947 habe ich ausschließlich in Hauset gelebt, bis auf die letzten vergangenen Jahre.
Teil 1 - Das Leben in der Dorfgemeinschaft Hauset in den dreißig Jahren seit Kriegsende

Für die Kinder meines Jahrgangs, die im Herbst 1953 in die Schule kamen, war das gesellschaftliche Leben in der Dorfgemeinschaft geprägt von der
Schule, der Kirche und dem Vereinswesen, sowie später auch ein wenig von der Gemeinde als Einrichtung. Alles war miteinander verwoben.
Das Vorschulalter
An die Jahre bis 1953 habe ich nur sporadische und schwache Erinnerungen. Was ich aufnahm, waren die Erzählungen meiner Eltern und die meiner Geschwister, die in Hauset zur Schule gingen. Es
waren Geschichten aus der Schmuggelzeit. Aus dem Fenster unserer Etagenwohnung auf Frepert konnte ich erkennen, wie die Schmugglerkolonnen aus dem Aachener Wald kommend über die Wiesen der
Hauseter Heide Richtung Frepert oder Dorf zogen. Die Ereignisse sorgten hin und wieder für Aufregung im Dorf. Eine Staatsgewalt spürte ich, wenn überhaupt, nur durch das häufige Erscheinen von
Besuchern und vor allem Zöllnern, die in dieser Zeit die Schmuggler aufstöbern sollten. Ferner blieb mir in Erinnerung, dass ich mit meinen Geschwistern und Nachbarskindern im schneereichen
Winter mit dem Schlitten den Frepert hinunter bis ins Dorf gleiten konnte und den mühsamen Weg wieder zurückgehen musste.

Die Dorfschule
Die ersten Eindrücke über das Dorf und das Leben gewann ich in der Dorfschule. Meine erste Schulklasse im September 1953 zählte acht Kinder, fünf Jungen und drei Mädchen. Hauset hatte damals
etwas mehr als 700 Einwohner. Die Lehrerin Frl. Winners betreute zwei Jahrgänge, das erste und das zweite Schuljahr. Meine
Familie war gerade umgezogen in den Weiler Flög. Es war eine Ganztagsschule und die Schülerinnen und Schüler kamen zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Schule, in meinem Fall begleitet von meinen
Geschwistern. Zur Mittagspause gingen wir nach Hause, wo Mutter das Mittagessen zubereitet hatte. Da ich etwa 1,5 Km von der Schule entfernt wohnte, stellte die Mittagspause eine zeitliche
Herausforderung dar. Der Schulweg wurde einfacher als einige von uns ab dem zweiten oder dritten Schuljahr, ein Fahrrad benutzen konnten. Den Bürgermeister Joseph Lorreng lernte ich persönlich kennen. Sein Hof befand sich in unserer Nachbarschaft, am Rande des Schulwegs. Wir Kinder
mussten vom Rad absteigen, um dem Bürgermeister zur Ehrerbietung die Hand zu reichen, wenn er draußen an der Straße stand. Ein weiterer Nachbar war Carl Lux, der in seinem Haus eine Werkstatt
betrieb, die wir mit den Nachbarskindern oft aufsuchten. Dort befand sich ebenfalls eine Gastwirtschaft mit Gartenlokal, wo wir drei etwa gleichaltrigen Nachbarskinder uns vor allem an den
Wochenenden herumtrieben, um die ersten Gäste, meist aus Aachen, zu begrüßen. Auf der anderen Seite befand sich die von der Gemeinde betriebene Sandgrube. Daher herrschte hier gelegentlich
Verkehr wegen des Sandtransports. Im Winter wurden die Straßen von zwei Gemeindearbeitern mit Sand aus der Kipplade bestreut.
Vom Klassenzimmer aus konnten wir die Einsätze (mit dem Fahrrad) des Feldhüters Lambert Lenz beobachten, der seine „Zentrale“ im Gemeindehaus neben der Schule hatte. Mir war Herr Lenz als Respektperson bekannt, denn er war mein Nachbar gewesen, als ich auf Frepert wohnte. Lehrer im dritten und vierten Schuljahr war Herr Haag aus Büllingen. Im fünften und sechsten Schuljahr unterrichtete Hauptlehrer Jules Cravatte nicht nur diese beiden Jahrgänge, sondern auch das siebte und achte Schuljahr. Er war schon im Jahrzehnt vor dem Krieg Lehrer in der Dorfschule von Hauset gewesen war und erzog uns mit mehr oder weniger sanftem Druck zu guten Belgiern und guten Katholiken.

Pfarre und Kirche
In der Schule nahmen aus meiner Wahrnehmung die Kirche und die Pfarre breiten Raum ein. Den Katechismus-Unterricht erteilte der Pfarrer, zu
dieser Zeit Pastor Joseph Duschak. Er kam zum Unterricht in die Klasse. Aber auch außerhalb der Schule spielte die Pfarre eine wichtige Rolle, durch die Feste in der Kirche oder mit der
Pfarrgemeinde bei bestimmten Veranstaltungen. Über den Religionsunterricht und die Katechismus-Lehre entstand schnell die Verbindung zur Kirche beziehungsweise zur Pfarre. Bibelkunde
vermittelten die Lehrer selbst.
Mindestens einmal in der Woche sollten wir vor Schulbeginn zur Heiligen Messe gehen und nachdem wir im zweiten Schuljahr die Erste Heilige Kommunion empfangen hatten, gerne häufiger. Die Feier zur Ersten Heiligen Kommunion war ein Fest für die gesamte Pfarrgemeinde. Damals musste man nüchtern zur Messe kommen, um die Heilige Kommunion empfangen zu können. Im Gegenzug durften wir anschließend im Klassenraum erst einmal frühstücken. Je mehr und je länger wir aßen, konnten wir die Zeit ein wenig totgeschlagen. Die Anregung des Hauptlehrers, man kann auch sagen seine strenge Empfehlung, einen Ablass der Sünden zu erzielen, wenn wir neun Mal ohne Unterbrechung am ersten Freitag des Monats zur Heiligen Kommunion gingen, habe ich im Laufe der Jahre nicht ein einziges Mal erfolgreich befolgen können. Aus unterschiedlichen Gründen.
So entstand bei uns der Eindruck, dass die Schule, die Kirche und die Gemeinde nicht nur unser Leben bestimmten, sondern auch das der gesamten Dorfgemeinschaft. Die Jungen wurden Messdiener, die Mädchen Vorbeterinnen und Führengel bei Prozessionen und kirchlichen Feiern. Wir alle konnten die Kirchenlieder mitsingen und die Heilige Messe oder das lateinische Hochamt fast auswendig mitbeten. Das Gebetbuch hieß „Credo“.
Nach dem Tod von Pastor Duschak 1954 wurde Robert Pankert Pfarrer von Hauset. Heinrich Heutz löste 1959 den langjährigen Bürgermeister Joseph Lorreng in seinem Amt ab und leitete nun die Geschicke der kleinen Gemeinde.

Die Gemeinde und das Dorf
Wir Schulkinder lernten in diesen Jahren die Gemeindevertreter kennen, nicht nur den Bürgermeister, auch die Schöffen und den Feldhüter. Sie waren bei allen Dorffesten dabei und waren auch
in den Schützenvereinen präsent. So erkannten wir, welche Rolle sie im Dorf spielten. Auf die Vereine waren wir Schulkinder bisher vor allem durch die Kirchenfeste und die Dorffeste aufmerksam
geworden und ihre Rolle in der Dorfgemeinschaft erkannt. Auch das Dorf selbst lernte wir in seinen vielen Facetten kennen.
Da war das Kolonialwarengeschäft von Willy und Maria Hoven gegenüber der Schule, wo wir unsere Bleistifte
kauften. Daneben die Metzgerei Knott und des Anstreichers Bartholemy. Etwas höher die Bäckerei von Peter Kockartz, das Lebensmittelgeschäft von Ferdinand Gatz und auf Vestert die Gastwirtschaft
von Heinrich Kockartz mit Bäckerei und Kolonialwarengeschäft. Unterhalb der Kirche befand sich noch ein kleines Geschäft und die Bäckerei und Gastwirtschaft von Karl Gatz. Aber auch andere
kleinere Betriebe waren mir geläufig wie die Schlosserei von Carl Lux, unser Nachbar, oder der Kohlenhandel Mathias Janssen, der uns mit Briketts versorgte. Die meisten Waren wurden ans Haus
geliefert.
Mit Ende des sechsten Schuljahrs im Sommer 1959 trennten sich die Schülerinnen und Schüler und gingen in verschiedene Himmelsrichtungen. Einige von uns wechselten auf die Mittelschulen nach Eupen oder Kelmis. Das war anscheinend ein neuer Trend, denn bisher war in Hauset nur ein einziger Akademiker bekannt, der in Lüttich Ingenieurwesen studiert hatte. Er wurde von unserem Hauptlehrer immer als leuchtendes Vorbild hingestellt. Durch den Schulwechsel sahen wir unsere bisherigen Schulkameraden weniger, aber die Verbindungen wurden nicht unterbrochen.
Außerhalb der Schule war die Jugend in Hauset zunächst nicht organisiert. Die Katholische Landjugend bestand in den Ostkantonen zwar seit Mitte der 1950er Jahre, in Hauset kam erst einige Jahre später ein kleines Häuflein als Gruppe zusammen. Das war auch im Sport so. Von uns Jugendlichen musste alles selbst organisiert werden, Tischtennis, Leichtathletik, Fußball. Auch die gelegentlichen KLJ-Treffen bei Pastor Pankert im Pastorat hatten nur den Vorteil, dass die genannten Jahrgänge sich zumindest im Dorf trafen. Übrigens waren die Mädchen fast immer außen vor. Diese Zusammenkünfte wurden aber im Laufe der Jahre weniger, z.T. weil die Jungen und Mädchen für ihre weitere Ausbildung verschiedene Wege gingen, aber auch weil ein Teil der Jugendlichen durch die Mittelschulen in anderen Sportvereinen aktiv wurden.

Das
Vereinswesen
Einige wenige Vereine bestimmten das kulturelle Zusammensein und überhaupt das Leben im Dorf. Der Gesangverein St. Cäcilia war als Kirchenchor in besonderem Maße
mit der Kirche verbunden. Die Kirche war sonntags gut besucht. Die Mädchen saßen
links vor, die Jungen rechts von. Die Frauen und manche Familien bzw. Paare saßen im vorderen und mittleren Bereich, die Männer im hinteren Bereich, wobei die älteren Herren in den Seitenschiffen
oder nahe bei den Ausgängen standen.
Der Chor verschönerte vor allen Dingen die Messe durch seinen kirchlichen Gesang. Aus meiner Erinnerung entwickelte sich der Chor, in dem Männer und Frauen bald gemeinsam sangen, zu einer eingeschworenen Gemeinschaft, die auf hohem Niveau Kirchenchorale vortrug und so die heilige Messe zugänglicher machte. Zunächst wurde die Messe in lateinischer Sprache gehalten und auch der Gesang war in Latein. Als Messdiener mussten wir die Gebete und Gesänge auf Latein auswendig lernen.
Eine Gruppe des Kirchenchors führte in den 1960er und 1970er Jahren zumindest einmal im Jahr ein Volkstheaterstück auf, mit Laiendarstellerinnen aus dem Dorf. Dies war eine Tradition, die schon seit Gründung des Vereins bestand. Der Chor trat auch bei weltlichen Feiern auf.
Wir Kinder und Jugendlichen der genannten Jahrgänge erinnern uns auch noch an eine kleine Gruppe der Harmonie Hauset, einer „Nachfolgeorganisation“ der Harmonie Hauset des Dirigenten Peter Bohlen, einem Orchester, das zwischen den beiden Kriegen beinahe in Kompaniestärke das Rheinland mit zahlreichen Auftritten beglückte. Das kleine Überbleibsel von sechs Personen spielte für uns Kinder aus Anlass der Kinderkommunion und der Nikolausfeier, ansonsten auf der Dorfkirmes, dem Schützenfest oder der Fronleichnamsprozession. Mangels Musiker löste sich die Gruppe 1959 auf.
Dominant traten in den Jahrzehnten nach Kriegsende die Schützengesellschaften auf. Es waren dies die altehrwürdigen St. Rochus-Schützen im Vereinslokal Karl Gatz und die St. Petrus-Schützen im Vereinslokal von Heinrich Kockartz; 1956 kamen die St. Hubertus-Flobert-Schützen im Lokal von Wilhelm Hansen hinzu. Die beiden erstgenannten Vereinslokale waren sowieso die Kristallisationspunkte allen Geschehens. An einigen anderen Treffpunkten, wie dem Sälchen in der Bäckerei Peter Kockartz oder in der Gaststätte bei Grassmann-Lux in der Flög, fanden gelegentlich kleinere Veranstaltungen statt. In den großen Sälen aber spielte sich alles ab, was zum gemeinschaftlichen Dorfleben beitrug, der Kirmesball, die Nikolausfeier, die Theaterabende und die Konzerte, und vor den Gemeindewahlen auch die Wahlveranstaltungen. Zum Schützenfest zogen die Schützen in Reih und Glied von den Vereinslokalen zur Kirche zum Besuch des Hochamts. Anschließend fand die Ehrung der Gefallenen statt. Neben dem Te Deum wurden auch die Brabançonne und das Lied vom “Alten Kameraden” gespielt.
Nachmittags war Vogelschuss, was für uns Kinder immer ein großes Ereignis war, konnten wir doch vom Schützenkönig ein Scherflein erwarten, wenn wir den letzten Splitter des Holzvogels eingesammelt hatten. Am Abend fand der Schützen- oder Kirmesball. Das erste mir bekannte öffentliche Fernsehgerät stand bei Heinz Kockartz am Vestert, wo auch der Kegelsportklub aufblühte. Ich erinnere mich an Fernsehserien wie „Soweit die Füße tragen“ (1959) und „Das Halstuch“ (1963), die viele Gäste in das Lokal lockten. Aber auch die Sportübertragungen konnte ich hier anschauen, zum Beispiel die Olympischen Spiele von 1960 in Rom und die Fußballweltmeisterschaften.
Auf der sportlichen Seite muss man den Kegelsport nennen, der ausschließlich im Lokal Heinrich Kockartz ausgeübt wurde. Auch hier war die Jugend immer
mit dabei, wenn es etwas zu feiern gab. Das war 1960 zum Beispiel so, als Heinz Kockartz, der Sohn von Heinrich und Wirt der „Keglerklause“, belgischer Meister wurde. 1963 folgte ihm Fredy Kockartz als belgischer Meister. Bis auf den Kegelsport waren kaum andere Sportarten vertreten, wenn man die Skatrunden und
-turniere in den Kneipen nicht als Sport betrachtet. Als Jugendliche verabredeten wir Hauseter mit den Schulfreunden aus Eynatten und Hergenrath Mannschaften von
sieben Spielern, weil wir keine elf Spieler aufbringen konnten.

Das Ende der Nachkriegsepoche
Bürgermeister Heinrich Heutz stand der Gemeinde zwölf Jahre vor, von 1958 bis 1969. In Erinnerung blieb mir aus seiner Amtszeit die Errichtung des neuen Kirchturms der Pfarrkirche und seine
Schenkung an die Dorfgemeinschaft, nämlich die Marienstatue am Vestert. Aber auch das Wegenetz wurde verbessert und die Wasserleitung nach Hauset gebracht. Gleichzeitig gab es erste Anzeichen für
eine stärkere Bebauung des Ortes, was ihn auch selbst berührte.
Nach dem Generalstreik in Belgien von 1960 bis 1961, den auch wir Schulkinder zu spüren bekamen, weil die Busse uns nicht zur Schule brachten und selbst die Ärzte streikten, begann nach und nach die Tendenz zur Föderalisierung des Landes. 1963/1964 wurden zunächst die Sprachgesetze verabschiedet. Sie sollten auch bald in der Mittelschule Anwendung finden, denn der Schulunterricht musste nun im deutschen Sprachgebiet der 25 Gemeinden in deutscher Sprache erteilt werden. Bis zu meinem Abitur im Jahr 1966 habe ich jedoch keinen besonderen Wandel wahrgenommen.
Nachdem Pfarrer Robert Pankert 1965 plötzlich verstarb, war für ein Jahr Franz Jäger Pfarrer von Hauset. Er wurde hier jedoch nicht glücklich, sodass 1966 der Raerener Kaplan Jean Levieux zum Pfarrer von Hauset ernannt wurde. Von ihm wird noch die Rede sein.
Zusammengefasst kann man sagen, dass bisher Schule, Kirche und Gemeinde den offiziellen Teil des Zusammenlebens gestaltet hatten, während die Zivilgesellschaft mit dem Gesangverein und vor allen Dingen den Schützenvereinen und den Keglern das gesellschaftliche und sportliche Leben im Dorf bestimmten. Für mich hatte sich dieses Zusammenleben als idyllisch und harmonisch dargeboten. Diese Idylle kam allerdings zu einem Ende, die Moderne sollte anbrechen.
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